Eine kleine Wochenschau | KW50/51-2022 (Teil 2)

Teil 1


18. Dezember 2022, Berlin

Der Morgen beginnt mit einem unsch?nen Murmeltiertag-Moment. Der Wecker klingelt um 5.20 Uhr. Im Radio l?uft ein l?ngeres Nina-Hagen-Special. Da f?llt mir wenigstens das schnelle Aufstehen leicht.

Nach dem Duschen kl?rt mich Google Maps auf, dass sich die sonnt?glichen ?PNV-Verbindungen nach Kladow erheblich von den samst?glichen unterscheiden. Wir k?nnen einen Bus um 6.50 Uhr nehmen. Das hei?t, es h?tte gereicht, um kurz vor 6 aufzustehen.

Nun gut, dann habe ich jetzt Zeit, um gemütlich einen Kaffee zu trinken. Okay, das h?tte ich auch mit einer halben Stunde mehr Schlaf ganz in Ruhe auf der Fahrt nach Kladow machen k?nnen. Irgendwie muss ich mir das unn?tig frühe Aufstehen ja sch?nreden.

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Um halb sechs endet das Turnier. Nach gut drei Stunden Aufr?umen und Abbau verlassen wir um 21 Uhr die Sporthalle. Ich habe also mein komplettes Wochenende plus den Freitagabend in einer Kladower Grundschul-Turnhalle verbracht. Toll!

Dafür laufe ich diesmal nicht nach Hause, sondern wir fahren mit den ?ffis. Das ist zwar auch nicht besonders erquicklich, so dass ich das Glas nicht als halb voll bezeichnen würde, aber zumindest ist es nicht komplett leer. Es ist ja wichtig, die Dinge irgendwie positiv zu sehen. Es k?nnte auch noch schlimmer sein. Das Glas k?nnte zum Beispiel kaputt gehen. Oder der Bus.

19. Dezember 2022, Berlin

Um meine Haare in weihnachtliche Form zu bringen beziehungsweise bringen zu lassen, gehe ich heute zum Friseur. Zum zweiten Mal hintereinander schneidet mir Ay?e die Haare. Somit kann ich sie endlich als meine Stammfriseurin bezeichnen. Finde ich zumindest.

Jetzt muss ich sie nur noch dazu bringen, mich nicht zu siezen, damit ich mich nicht so alt fühle. Unterhielten wir uns in einem anderen Kontext, beispielsweise in einem Club, würden wir uns ja auch duzen. Allerdings wei? ich nicht, was das für ein Club sein soll, in der eine Mitte-20-j?hrige Deutsch-Türkin und ein Mitte-End-40-j?hriger Westerw?lder aufeinander treffen. (Ay?e würde so einen Club sicherlich meiden.)

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Abends sind wir mit der Tochter verabredet, um den Weihnachtsbaum virtuell zu schmücken. Also, wir in Berlin schmücken real und die Tochter schaut per Video-Call aus Carlow zu. Wir trinken dabei wie jedes Jahr Sekt und die Tochter ein merkwürdiges Mix-Getr?nke aus der Dose, das so eklig schmeckt, wie das Dosendesign aussieht.

Als erstes müssen die Lichterketten angebracht werden. Eine recht diffizile Aufgabe, bei der noch nicht so recht weihnachtliche Atmosph?re aufkommen will. Nicht einmal vorweihnachtliche. Schlie?lich h?ngen die Ketten einigerma?en akzeptabel im Baum. Da es bei der Aufh?ng-Prozedur trotz der leicht angespannten Stimmung nicht zu unn?tig scharfen Wortwechseln kam, die den Abend oder unsere Ehe verdorben h?tten, k?nnen wir schlie?lich Kugeln, Schmuck und Figürchen an den Baum h?ngen.

Die nicht ganz so sch?nen Figuren kommen immer an die Rückseite des Baumes. Da fallen sie nicht ganz so auf. Selbstverst?ndlich sagen wir das nicht laut, denn wir wollen sie ja nicht kr?nken.

Lediglich ein paar selbstgebastelte Engelchen durchbrechen unsere ?sthetische Zweiklassen-Weihnachtsbaum-Gesellschaft. Die haben die Kinder seinerzeit in der Kita angefertigt. Mit mehr Begeisterung als Talent. Die kleinen Engel sehen aus wie eine Mischung aus Drag Queen und Tim-Burton-Figur auf Speed. Der Sohn hat sie trotzdem an die Vorderseite des Baumes geh?ngt und wir lassen das so. Nach unserem ?Sportler des Jahres”-Fauxpas am Samstagabend wollen meine Frau und ich ihn nicht wieder kr?nken, indem wir das Ergebnis seines frühkindlichen künstlerischen Schaffens auf die Schattenseite des Baumes verbannen.

Geschmückter Weihnachtsbaum im Wohnzimmer

20. Dezember 2022, Berlin

Das Verfassen der Weihnachtspost f?llt in unserer funktional strikt arbeitsgeteilten Ehe in meinen Aufgabenbereich. Das umfasst auch die Karten an die Verwandtschaft meiner Frau. So kommt es, dass ich jedes Jahr Weihnachtsgrü?e an irgendwelche Tanten schreibe, die ich allenfalls mal vor fünfzehn bis zwanzig Jahren auf einer Familien-Feier gesehen habe und die ich ansonsten nicht n?her kenne. Meine Frau bekommt die fertigen Karten lediglich zur Unterschrift vorgelegt.

Die besagten Tanten sind meist weit über 80. Manchmal auch über 90. Ihre Sehkraft l?sst zu wünschen übrig und die Arthritis in ihren Fingern erschwert ihnen das Schreiben. Deswegen rufen sie bei uns an, um sich für die Karten zu bedanken. Ausnahmslos und immer unter der Woche. Tagsüber. Wenn meine Frau im Büro und nicht zuhause ist. Ich dagegen schon, weil ich im Home Office arbeite.

Deswegen schreibe ich den mir unbekannten Tanten nicht nur j?hrlich zu Weihnachten, sondern telefoniere auch noch mit ihnen. Dabei bediene ich mich immer einiger allgemeinen Floskeln, um zu überspielen, dass ich keine Ahnung habe, mit wem ich da gerade spreche. Au?erdem will ich den Gespr?chsfluss nicht unn?tig stimulieren. Sonst bekomme ich Geschichten zu h?ren über Enkelkinder, Nachbarinnen oder Dorfbewohner*innen, die ich noch weniger kenne als die Tanten.

Vielleicht sammle ich dadurch genügend Karma-Punkte, um in meinem n?chsten Leben nicht als Kellerassel wiedergeboren zu werden. Wobei das auch seine Vorteile haben k?nnte, denn Kellerasseln schreiben bestimmt keine Weihnachtskarten.

21. Dezember 2022, Berlin

Heute ist Welt-Orgasmus-Tag. Am ungünstigsten Datum, das du dir dafür aussuchen kannst, denn heute ist auch Wintersonnenwende, das hei?t der kürzeste Tag des Jahres. Andererseits ist es damit auch die l?ngste Nacht des Jahres, was für das ausgiebige Zelebrieren des Welt-Orgasmus-Tags sogar von Vorteil ist.

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Die Tochter kommt aus Irland angereist. Um kurz vor 22 Uhr landet sie. Meine Frau und ich wollen sie bei der Ankunft am Flughafen überraschen.

Allerdings bin ich mir nicht sicher, ob es tats?chlich eine ?berraschung für die Tochter sein wird und sie nicht mit unserem Erscheinen rechnet. Schlie?lich war sie seit drei Monaten nicht zuhause. Da w?re es ziemlich sch?big von uns, sie nicht abzuholen. Andererseits haben wir unserem Sohn nicht zur Wahl zum Sportler des Jahres gratuliert, sondern ihn gefragt, wofür er die Auszeichnung überhaupt bekommen hat. Da ist uns alles zuzutrauen. Auch dass wir unsere Tochter nicht pers?nlich am Flughafen in Empfang nehmen und sie alleine mit der S-Bahn nach Moabit fahren lassen.

In der Ankunftshalle des Flughafens steht eine Gruppe, die mit kleinen irischen Flaggen ausgerüstet ist. Ein junger Mann ist all in gegangen und tr?gt sogar eine irische Stoff-Fahne um die Schultern. Ich komme mir etwas unvorbereitet vor. Wir haben nur uns mitgebracht. Aber wenigstens sind wir da. Das muss reichen.

Schlie?lich kommt die Tochter aus dem Bereich der Gep?ckausgabe. Leider vor der Person, die von den irischen Fahnenschwenker*innen abgeholt wird. Das h?tte mich schon interessiert, wer das ist und wie der Empfang abl?uft. Aber das Leben im Allgemeinen und das Abholen am Flughafen ist kein Wunschkonzert.

22. Dezember 2022, Berlin

Die Tochter erz?hlt, sie habe kürzlich bei einer Uni-Veranstaltung ein Bild ihres Bruders auf dem Handy angeschaut. Daraufhin habe ihre Sitznachbarin gefragt, ob das ihr Freund sei. Die Tochter verneinte das mit der gebotenen Vehemenz und erkl?rte, dies sei ihr Bruder und der sei erst 16. Daraufhin erwiderte die andere Studentin: ?Der sieht aber trotzdem sü? aus.“

Feministisch nicht ganz auf der H?he, aber für einen 16-j?hrigen durchaus nachvollziehbar, interessiert den Sohn an der Geschichte nur eins: ?Sieht die gut aus?“

23. Dezember 2022, Berlin

Um halb zwei haben wir einen gemeinsamen Termin mit der ganzen Familie. Für ein Fotoshooting. Absurderweise habe ich diesen Termin initiiert. Dabei finde ich fotografiert zu werden, ungef?hr so angenehm wie einen Besuch beim Zahnarzt. Oder mir eine Rede von Friedrich Merz anzuh?ren. Es ist die H?lle.

Vor ungef?hr fünf bis sechs Jahren hatten wir schon einmal so ein Familien-Fotoshooting. Meine Frau hatte das von einer Freundin als Gutschein zum Geburtstag bekommen. Damals kam ich direkt von einem Termin in das Fotostudio, war gestresst und nur m??ig begeistert davon, abgelichtet zu werden. Nicht die besten Voraussetzungen für eine ausgelassene Stimmung, um fr?hliche Familienbilder zu knipsen.

Dafür entstand in der Sitzung ein gelungenes Adams-Family-Gedenk-Portrait von uns. Wir sind alle ganz in schwarz gekleidet, verschr?nken die Arme vor der Brust und blicken missmutig in die Kamera. Das Bild h?ngt seitdem gro?formatig in unserem Flur, und zwar genau so, dass es alle sehen, sobald sie durch die Tür treten.

Vor ein paar Wochen hatte ich die Idee, dieses Bild sowie eine gemeinsame Aufnahme von der Tochter und dem Sohn zu rekonstruieren. Der Sohn ist davon nur mittelbegeistert, was beim Nachstellen des Adams-Family-Portraits recht hilfreich ist. Nachdem die beiden Aufnahmen im Kasten sind, denken wir, dass wir unsere Schuldigkeit getan haben und nun auf den Weihnachtsmarkt gehen k?nnen.

Allerdings werden unsere Pl?ne von der Fotografin durchkreuzt. Die ist au?erordentlich committet und hat noch die ein oder andere Idee für weitere Motive. Wir müssen uns in verschiedenen Konstellationen aufreihen, Grimassen schneiden, im Schneidersitz auf dem Boden sitzen und Family-Schriftzüge in die H?he halten. Zumindest die Fotografin hat Spa? dabei. Nach 20 Minuten entl?sst sie uns in die Freiheit. Damit sollte das für die n?chsten fünf bis sechs Jahre mit der Familien-Foto-Shooterei reichen.


Dies ist die letzte Wochenschau für dieses Jahr. Ein herzliches Dankesch?n an alle, die hier flei?ig lesen und kommentieren. Haben Sie ein fr?hliches Weihnachtsfest im Kreise Ihrer Lieben und ein paar entspannte Feiertage. (Vielleicht au?erhalb des Kreises Ihrer Lieben, das erh?ht die Entspannung.)

Letztes Jahr habe ich meine Weihnachtskarten sinngem?? mit dem Satz beendet: ?M?ge uns 2022 gn?diger sein, als das zurückliegende Jahr.“ Wir sind uns wohl alle einig, dass sich 2022 einen Schei? um meinen bescheidenen und nicht überm??ig anspruchsvollen Wunsch geschert hat. Daher m?chte ich an 2023 gar nicht erst irgendwelche Erwartungen herantragen. Ich wünsche uns allen einfach viel Glück. Es wird schon schief gehen. Gehaben Sie sich wohl.


Alle Beitr?ge der Wochenschau finden Sie hier.



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6 Kommentare zu “Eine kleine Wochenschau | KW50/51-2022 (Teil 2)

  1. Vielen Dank für viele lustige und oft rettende (die Benachrichtigung kommt oft in Momenten, wo ich familientechnisch Ablenkung super brauchen kann) Lesezeiten. Habt alle ganz sch?ne Feiertage und ich schlie?e mich den Wünschen für 2023 an: Toi Toi Toi!

  2. Die Begeisterung ist Euch anzusehen ?

    Wir drei Schwestern hatten gestern auch so ein Shooting (Muttern wünscht es sich für morgen), allerdings mit sehr viel Spa? und Gegacker.

    Wünsche Euch allen sch?ne Feiertage und einen guten Rutsch,
    liebe Grü?e aus Hamburg!

  3. Vielen Dank für Ihre (pardon, deine) immer wieder unterhaltsamen und wunderbar geschriebenen Blobeitr?ge und Bücher. Sch?ne Feiertage und ein gutes Jahr 2023 mit viel K?sekuchen!

  4. Vielen Dank für den Lesespa? und ja, 2022 hatte es in sich. Meine Güte. Es wird bei mir nur noch von 2010 getoppt, als ich aus der Familie die Einzige war, die sich um Omi kümmerte und alles regelte.
    Erholsame Feiertage, e?t gut und reichlich, dafür weniger Nachrichten, und als Filme k?nnte ich noch Andrea Sawatzkis Bundschuh-Reihe empfehlen. Es pl?tschert so sch?n, da kann man gut abschalten (und Nickerchen machen).

Erw?hnungen

  • Christian Hanne

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